Teil 1: „Da sieht man die Nachhaltigkeit vor lauter Siegeln nicht!“

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12. Oktober 2022

ÜBER DEN AUTOR
Gesina Schalenberg
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„Da sieht man die Nachhaltigkeit vor lauter Siegeln nicht!“

So könnte man die Kommentare einiger Einzelhändler:innen in unserem Zukunftsworkshop zu nachhaltigen Lieferketten überspitzt wiedergeben. Wie sie in unserem Projekt „Hinter der Ladentheke – Geschichten aus dem Einzelhandel zu globalen Wertschöpfungsketten“ berichten, werden sie immer öfter von Kund:innen auf nachhaltige Kriterien in ihrer Lieferkette angesprochen. Als Schnittstelle zwischen den Produzent:innen und den Verbraucher:innen spielen sie eine wichtige Rolle in der Kommunikation über Produkteigenschaften und Kundenanforderungen im Bereich der Nachhaltigkeit.

Siegel über bestimmte Nachhaltigkeitskriterien werden von ihnen daher zumindest teilweise als hilfreich wahrgenommen, um Transparenz über die ökologischen und sozialen Auswirkungen der Herstellung unserer Konsumgüter zu schaffen und die Qualität verschiedener Produkte bewerten zu können. Die Siegel sollen eine schnelle Entscheidungshilfe bei einem bewussten Kauf darstellen – für die Verbraucher:innen, die im Einzelhandel shoppen, aber auch für die Einzelhändler:innen selbst, die Produkte von Lieferanten und Herstellern beziehen. Doch oft werfen Siegel mehr Fragen auf als sie beantworten:

  • Für welche Bereiche gibt es welche Siegel?
  • Wie kann ich die Glaubwürdigkeit dieser Siegel prüfen?
  • Was brauchen Einzelhändler:innen, um sie sinnvoller im Einkauf und im Marketing nutzen zu können?

Mal ehrlich – wussten Sie, dass es sogar zertifizierte Milchaufschäumer gibt?

Inzwischen gibt es so viele verschiedene Zertifizierungsstellen und entsprechende Siegel, dass Einzelhändler:innen ihr Sortiment teilweise oder vollständig darauf ausrichten können.

Grundsätzlich müssen Hersteller, die aus Marketingzwecken ein Siegel über bestimmte Kriterien für ein Produkt erhalten wollen, bei einer siegelgebenden Organisation eine externe Auditierung und Zertifizierung beantragen. Da dies für beide Seiten zum lukrativen Geschäft werden kann und immer mehr Unternehmen die Angebote zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Sorgfaltspflicht nutzen wollen, haben sich die Zertifizierungen in den letzten Jahrzehnten vervielfacht. Beziehen Einzelhändler:innen dann diese zertifizierten Produkte, können sie ihr Sortiment gegen Konkurrenten abgrenzen, eine bestimmte Kundschaft gezielter ansprechen und einen Wettbewerbsvorteil erlangen. Beispiele für den Bereich Nachhaltigkeit oder Fair Trade hierfür sind unter anderem die Weltläden, CONTIGO, dwp, Reformhäuser und der Biofachhandel. Es gibt auch große Importeure, die als Unternehmen zertifiziert werden (bspw. die GEPA). Teilweise können große Handelshäuser auch eigene Kennzeichnungen herausgeben, beispielsweise hat Lidl als Teil einer der größten Einzelhandelskonzerne in Deutschland eine faire Eigenmarke entwickelt. Außerdem entstehen Kooperationen, bei denen beispielsweise FairTrade Deutschland e.V. den Lebensmitteleinzelhandel in der Vermarktung Fair-Trade-zertifizierter Produkte durch Konzepte und Werbematerialien unterstützt.

Die Kriterien für die Siegelvergabe beziehen sich meist auf soziale und ökologische Eigenschaften verschiedenster Produktgruppen und variieren stark zwischen den Siegeln. Besonders viele Siegel gibt es in den Bereichen Lebensmittel (bspw. FairTrade, Bioland), Textilien (bspw. grüner Knopf, Fair Wear Foundation), Holzgewinnung und Möbel (bspw. FSC), Kosmetik (bspw. Natrue) und Strom (bspw. Naturstrom). Aber auch für einzelne Produkte wie Lacke oder Teppiche gibt es gesonderte Kennzeichnungen. Einige wenige Zertifizierungen schmücken eine größere Bandbreite an Produkten. Am bekanntesten ist wohl das staatliche Umweltzeichen Blauer Engel, das seit 40 Jahren hohe Umwelt-Standards für über 12.00 Produkte und Dienstleistungen setzt – ja, auch für Milchaufschäumer oder Polstermöbel! Es lohnt sich also auch abseits der bekannten Bereiche, nach einem Nachhaltigkeitssiegel Ausschau zu halten. Die Anforderungen an die Güter werden von einer unabhängigen Jury geprüft, sie variieren jedoch und beziehen sich entweder auf den gesamten Lebenszyklus des Produktes oder nur auf die Nutzungsphase. Genauer hinzuschauen, ist also auch geraten. Ähnlich ausgerichtet sind das EU-Ecolabel für reduzierte Umweltauswirkungen, das in Deutschland vom Umweltbundesamt und der RAL gGmbH vergeben wird, sowie das Siegel „Nature Care Products“ für Produkte des täglichen Bedarfs, das auch für Bereiche wie Elektronik, Reisen, Renovieren/Bauen und Wohnen verfügbar ist.

Für den Einzelhandel ist neben der Herstellung der Güter aber auch der Handelsprozess relevant. Schließlich fragen Kund:innen auch, unter welchen Bedingungen die Güter zum Einzelhandel und von dort zum Verbraucher gelangen. Hier spielen Siegel für nachhaltige Verpackungsmaterialien (bspw. grüner Punkt und Recycling-Material, FSC/PEFC-Logo etc.) und eine klimafreundliche Paketlieferung eine Rolle. Zahlreiche Transportdienstleister haben entsprechende Angebote entwickelt, beispielsweise DHL GoGreenUPS Carbon Neutral, oder Hermes We Do. Die CO2-Emissionen durch den Versand werden dabei über Klimaschutzprojekte ausgeglichen (kompensiert) . Dadurch soll der Versand umweltfreundlich bis „klimaneutral“ werden – wobei dieser Begriff rechtlich (noch) nicht geschützt und daher umstritten ist. Für Online-Shops gibt es bisher vorwiegend Siegel über Sicherheit, Datenschutz und Transparenz (Bsp. s@fer-shopping Gütesiegel von TÜV Süd).

Auf wachsendes Interesse bei Einzelhändler:innen und Kund:innen stoßen Siegel für regionale Angebote, für die Wirtschaftsakteure vor Ort sich zusammenschließen und eine bestimmte Herkunft des Gutes signalisieren. Sie werden auf verschiedenen Ebenen vergeben:

  • Das rot-gelbe Siegel „geschützte Ursprungsbezeichnung“ der Europäischen Kommission für Agrarerzeugnisse zeigt an, dass Produkte in einem bestimmten Gebiet mit genauen Kriterien hergestellt wurde (bspw. Allgäuer Emmentaler)
  • Mit dem Ziel bundesweit einheitlicher Transparenz hat das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) im Jahr 2014 das „Regionalfenster“ initiiert, durch das freiwillig ca. 5.500 Lebensmittel, Blumen und Zierpflanzen mit Angaben über Ursprungs- und Verarbeitungsort sowie den regionalen Anteil versehen werden
  • Einige Bundesländer haben Regionalsiegel entwickelt, bspw. „Geprüfte Qualität Hessen“
  • Einzelne Regionen verwenden Siegel wie „Fleckenbühler Landprodukte“ in Frankfurt und Marburg oder „Gutes aus Waldhessen“ in Hersfeld-Rotenburg
  • Der Lebensmitteleinzelhandel nutzt Regionalmarken wie „Von Hier“ oder „Bestes aus unserer Region“

Das Prinzip dahinter: regionale Produkte werden mit einer besseren Qualität (bspw. Frische) und kurzen Transportwegen assoziiert, Kund:innen haben ein größeres Vertrauen zu regionalen Produzenten und Kleinbetriebe können dies als Wettbewerbslücke in der Konkurrenz zu den großen Discountern nutzen (Stockebrand 2012, S. 233). Durch die Nähe zu den Herstellern entsteht Transparenz über die Produktionsbedingungen, Verbraucher:innen schätzen die Produkte als identitätsstiftend und charakteristisch für die Region und die Produzent:innen selbst handeln im besten Falle verantwortungsvoll und erhalten wichtige Strukturen (Penker 2015 o.S.).

Natürlich ist eine regionale Herkunft kein allgemeiner Garant für diese Vorteile. Ein grundsätzliches Problem ist außerdem, dass die Vergabekriterien sehr unterschiedlich sind, da in manchen Fällen nur der Verarbeitungsort und nicht die Herkunft der verwendeten Rohstoffe betrachtet wird. Der rechtlich ungeschützte Begriff der Regionalität wird also sehr unterschiedlich ausgelegt (Penker 2015, o.S.), was die Gefahr des Greenwashings birgt (Schlich 2012, o.S.). Regionalität kann sich auf eine Stadt oder mehrere Bundesländer beziehen oder nur auf gewisse Anteile der Produktbestandteile.

Eine Frage der Glaubwürdigkeit: Wer kontrolliert die Kontrolleure?

In diesem Dschungel aus zahlreichen und vielfältigsten Nachhaltigkeitssiegeln verliert man schnell den Überblick und der Vorteil einer schnellen und eindeutigen Kaufempfehlung verpufft. Hinzu kommt, dass durch die variierenden Zertifizierungsvorgänge die Glaubwürdigkeit der Siegel in Frage steht. Um diese zu bewerten ist relevant:

  • welche Kriterien an die Güter gestellt werden
  • ob der Bewertungsprozess überprüfbar, transparent und nachvollziehbar abläuft
  • wie unabhängig die Siegelgeber und Kontrollstellen sind, sodass die Siegelnehmen sich die Siegel nicht einfach erkaufen können

Da eine entsprechende Einschätzung pro Siegel für Einzelhändler:innen verständlicherweise  überfordernd ist, haben sie sich in unserem Zukunftsworkshop Unterstützung hierzu sowie stärkere Kontrollen gewünscht. Denn wenn Greenwashing in einem zertifizierten Produkt auffliegt, leiden auch die Einzelhändler:innen, die sich auf ein Siegel verlassen haben und auf den neuen Ladenhütern sitzen bleiben. Laut einer Online-Umfrage des Umweltmagazins „Utopia“ aus dem Jahr 2019 vertrauen die Verbraucher:innen vor allem Umweltschutzorganisationen und NGOs sowie staatlichen Institutionen und Testinstituten in Sachen Siegelvergabe.

Tatsächlich bieten eben solche Akteure in Deutschland auch Einschätzungen über die Glaubwürdigkeit verschiedener Siegel an – als „Kontrolle der Kontrolleure“ gewissermaßen. Zum einen bietet das Deutsche Institut für Qualitätsstandards und -prüfung (DIQP) als Non-Profit-Institut Verbraucher:Innen (und Firmen) Infos zu Nachhaltigkeitszertifizierungen. Außerdem bieten folgende Internetseiten einen Überblick und Bewertungen verschiedener Siegel für verschiedenen Produktgruppen:

  • Siegelklarheit (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit): Glaubwürdigkeit, Umweltfreundlichkeit und Sozialverträglichkeit von Siegeln
  • Nachhaltiger Warenkorb (Regionale Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategien): Auswahl aller (sehr) gut-Siegel von Siegelklarheit + unabhängige Informationen über Siegel und Produktkennzeichnungen
  • Label online (Bundesverband Die Verbraucher Initiative e.V.): Informationen und Bewertungen zu Labels in Deutschland (Bedeutung, Qualität)
  • RegioPortal (Bundesverbandes der Regionalbewegung e. V.): Verzeichnis mit Regionalinitiativen, die detaillierte Angaben über die Voraussetzungen machen

Auf globaler Ebene gibt es zudem eine strategische Kooperation zwischen über 400 Einzelhändler:innen und Konsumgüterunternehmen: Das Consumer Goods Forum hat unter anderem eine Sustainable Supply Chains Initiative gestartet, um das Vertrauen in Nachhaltigkeitsstandards weltweit zu erhöhen. In diesem Zuge wird ebenfalls ein Benchmarking unabhängiger Zertifizierungssysteme für den sozialen Bereich angeboten.

Doch kleine nachhaltige Betriebe und Händler bleiben mitunter unter dem Radar der Zertifizierungssysteme, wenn sie die Kosten hierfür nicht stemmen können. Um ein Siegel zu erhalten, müssen erste Auditierungen und Folge-Zertifizierungen sowie der entsprechende Personalaufwand gestemmt werden – für einige engagierte Anbieter eine unüberwindbare Hürde. Einzelhändler:innen können allerdings auch hier Abhilfe schaffen: Wenn sie Ihre Lieferanten gut kennen und direkten Kontakt zu ihnen haben, können sie ihren Stammkunden oft auch ohne Siegel Informationen über Nachhaltigkeitskriterien glaubhaft vermitteln. Hierbei kann über persönliche Fotos und Geschichten aus den Betrieben mitunter sogar mehr Vertrauen entstehen, als durch die verwirrende Zertifikate. Natürlich erfordert auch das Eigeninitiative, Kreativität und einen engen Kundenkontakt.

Der Blick nach vorn: Wie kann man den Nutzen der Siegel für den Einzelhandel stärken?

Einzelhändler:innen, die an unserem Zukunftsworkshop teilnahmen, hatten gleich mehrere Ideen, wie man mit den angesprochenen Problemen umgehen könnte. Vor dem Hintergrund unserer Recherche können wir diese etwas spezifizieren.

Zum einen bestand der Wunsch nach einer Öffentlichkeitskampagne für regionale Produkte, um deren Wertschätzung zu steigern. Hier stellt sich die Frage, auf welche Produkte sich diese beziehen könnte, zusätzlich zu dem bereits fokussierten Lebensmittelbereich. Eine Voraussetzung für eine bessere Nutzung dieser Möglichkeiten ist wohl eine transparente Diskussion verschiedener Akteure über das Regionalitätsverständnis in Kombination mit Nachhaltigkeitskriterien der verschiedenen Siegel, sodass Lücken in der Vermarktung regionsspezifischer Erzeugnisse erkannt werden oder bestehende Programme auf mehr Teilnehmende ausgeweitet werden können. Hierfür sehen wir unter anderem die Wirtschaftsförderung der Kommunen und Länder in einer wichtigen Multiplikatorenrolle.

Es gibt also bereits viele (Online-)Angbote als Unterstützung bei der Siegelbewertung. Einzelhändler:innen fragen sich aber auch, inwieweit intransparente Siegel und Greenwashing sanktioniert werden. Als Alternative zu Zertifizierungen wünschen sich Einzelhändler:innen auch generelle Verstärkungen von Kontroll- und Nachweispflichten für Hersteller. Auf internationaler Ebene gibt es bereits entsprechende Entwicklungen, beispielsweise hat die Europäische Kommission diesen März eine Richtlinie zur „Stärkung der Verbraucher für den ökologischen Wandel durch besseren Schutz gegen unlautere Praktiken und bessere Informationen“ vorgeschlagen, die unter anderem besser vor unzuverlässigen und intransparenten Nachhaltigkeitssiegeln schützen soll. Die Bundesregierung könnte diese Bestrebungen unterstützen. Um Auf Bundes- oder Landesebene könnten finanzielle Fördermöglichkeiten für Zertifizierungen für kleine und mittelständische Betriebe geschaffen werden. Entgegenkommen könnte hier die Staffelung der Kosten nach Unternehmensgröße durch die öffentlichen und privatwirtschaftlichen Zertifizierungsstellen.

Letztlich sind Nachhaltigkeitssiegel ein Werkzeug, das die Kommunikation über entsprechende Kriterien in jedem Fall anstößt und in den meisten Fällen erleichtert. Die Einzelhändler:innen brauchen jedoch Konzepte, wie sie mit den vielen Rückfragen zu den Siegeln im Umgang mit den Kund:innen und eigenen Lieferanten umgehen können. Eine große Herausforderung ist hier, über alle Akteure hinweg eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zu schaffen und diese resilient gegen Rückschläge durch Greenwashing zu machen. Hier könnten die Siegelorganisationen sowie Wirtschaftsverbände eine Unterstützung bieten, indem sie auf die spezifischen Belange von Einzelhändler:innen eingehen.

Quellen:

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