Hinter der Ladentheke – vom Vertrauen, Mikroplastik und Siegeln mit Green Mama Naturkosmetik
27. Oktober 2021
Marlene Haas
Globale Lieferketten stecken auch in all den Cremes und Verjüngungskuren, mit denen wir unser größtes Organ, unsere Haut, einsalben. Deshalb sprechen wir in unserer aktuellen Story für „hinter der Ladentheke“ über Handelskosmetik mit der Unternehmerin und Powerfrau Kirsten Becker, die sich der Naturkosmetik verschrieben hat. Während unsers Gesprächs über die Herausforderungen von Wertschöpfungsketten in der (Natur-)Kosmetik bekommen wir ein Gefühl davon, wie es sich in der Kosmetikbranche wohl anfühlt, das „Richtige“ zu tun. Beeindruckend, mit welcher Konsequenz Kirsten Nachhaltigkeit in ihrem Berufs- und Privatleben unterbringt. Es ist die gleiche Entschlossenheit, mit der sie uns auf die Reise zu ihren täglichen Spannungsfeldern mitnimmt und in die Komplexität der globalen Lieferketten ihrer Produkte eintauchen lässt.
Fangen wir von vorne an: Vor 14 Jahren gründete Kirsten Becker „Green Mama“. Green Mama ist ein Naturkosmetik-Studio auf der Berger Straße in Frankfurt. Kirsten musste uns erstmal abholen, was Naturkosmetik eigentlich ist. Ist doch klar, denkt Ihr nun vielleicht. Lasst es uns kurz als gemeinsame Basis klarziehen:
„Naturkosmetik ist Kosmetik aus natürlichen Rohstoffen. Es werden keine chemischen Zusatzstoffe verwendet und Naturkosmetik kommt ohne Silikone, Plastikstoffe, Parabene, Formaldehyde oder andere synthetische Stoffe aus. Außerdem wird Naturkosmetik niemals am Tier getestet. Daher sind Produkte der Naturkosmetik hauptsächlich vegan. Einziges tierisches Produkt, welches oft verwendet wird, ist der Honig. Dieser ist in der Naturkosmetik aufgrund der antibakteriellen Wirkung wichtig und nicht wegzudenken.“
Klingt ganz nach dem, was gerade für immer wichtiger empfunden wird: Nachhaltigkeit, biologische Produkte, naturbelassen, vegan. Zentrale Begriffe, die nicht zuletzt durch die „Fridays for Future“-Bewegung immer wichtiger werden. Vor 14 Jahren war das noch anders, erzählt uns Kirsten. Als sie Green Mama gründete, hatten nachhaltige und „bio“-Produkte immer einen gewissen Touch: Altmodisch, spießig, vielleicht bieder. Das wollte Kirsten ändern. Auch und gerade moderne Menschen können Naturkosmetik an- und verwenden und Naturkosmetik muss nicht langweilig präsentiert werden.
Doch nun zu den globalen Lieferketten: Naturkosmetik ist – wie eben gelernt – von natürlichen Inhaltsstoffen geprägt. Das bedeutet für mich im Umkehrschluss: Weniger Rohstoffe, die überhaupt verwendet werden. Denn der ganze synthetische Kram wird weggelassen, oder? Ich denke da an verschiedenste Plastikstoffe, welche in komplexen industriellen Prozessen hergestellt werden. Zum Beispiel in Peelings als massierende Kügelchen. Sie bestehen als hauptsächlich aus Rohöl, natürlich in anderer Form als es aus der Zapfsäule fließt – und kommen aus den USA, Iran, Saudi-Arabien und Russland. Doch seit das Thema Mikroplastik und dessen schädliche Wirkung beispielsweise auf unseren Hormonhaushalt in aller Munde ist, werden mehr und mehr Kosmetika mit Ersatzstoffen für Peelingkügelchen hergestellt. Wie das „primäre“ Mikroplastik auf Kosmetikprodukten benannt wird, erklärt Euch „Smarticular“. Natürlicher Plastikpeeling-Ersatzstoffe mit einer nicht weniger spannenden Lieferketten sind beispielsweise Aprikosenkerne, Kaffee oder Zucker.
Natürlich ist nicht gleich nachhaltig – Exkurs in die Siegelwelt
Wie am Beispiel Mikroplastik schon anklingt, sind globale Lieferketten auch in der Naturkosmetik vorzufinden. Doch gibt es Alternativen aus Deutschland und Europa?
Wie auch Christoph von Teatastic versucht Kirsten, ihre Verantwortung innerhalb ihrer Produkt-Lieferketten zu nutzen. Denn oft gibt es die Inhaltsstoffe von Kirstens Kosmetikprodukten gar nicht aus Deutschland, wie beispielsweise den Manuka-Honig, den es aus in Neuseeland gibt oder das zertifizierte Olivenöl, welches häufig aus Südeuropa kommt. Gerade aus Korea und bei in Asien hergestellter Naturkosmetik gibt es wohl echte Pioniere, was die Hautverträglichkeit angeht. Was uns vielleicht verwundert, liegt auf der Hand: In Korea hat Kosmetik und ein gepflegtes Äußeres einen höheren Stellenwert als Hierzulande (und der Beauty-Rückzug hinter die verpixelte Kamera im Homeoffice tut alles Weitere…) und somit ist in der Produktentwicklung so manch natürlicher Inhaltsstoff bereits verbreiteter als in Deutschland. Die Produkte sind tierversuchsfrei und überwiegend vegan. Doch natürlich bedeutet nicht gleich nachhaltig.
Die genannte asiatische Kosmetik ist beispielsweise „Ecocert“ und „BDIH“ zertifizierte Naturkosmetik. Die Siegel werden Euch bekannt vorkommen. Sie sind mit „Natrue“ und „Naturland“ die bekanntesten Natur- und Biokosmetiksiegel. „Label online“ erklärt die Details.
Siegelbewertung am Beispiel Palmöl
Der Bundesverband der Industrie- und Handelsunternehmen für Arzneimittel, Reformwaren, Nahrungsergänzungsmittel und kosmetische Mittel e.V. – kurz BDIH – ist ein Standard für kontrollierte Naturkosmetik und wurde 2001 durch den BDIH gemeinsam mit Herstellerunternehmen eingeführt. Er garantiert umwelt- und ressourcenschonende Herstellungsverfahren, optimale Abbaubarkeit von Rohstoffen und weitere Punkte zur Verpackung.
Der Verein selbst agiert seit 1951 als non-profit Vereinigung von Herstellern und Vertriebsunternehmen mit heute über 500 Mitgliedsunternehmen.
Im Kontext des Themas nachhaltige Lieferketten ist interessant, seine Tochterfirma, die „International Organic and Natural Cosmetics Corporation“ näher zu beleuchten, die sich der weltweiten Kontrolle von kosmetischen Mitteln nach BDIH-Standard verschrieben hat.
Auf deren Seite heißt es, es werde einen Großteil an Bio-Inhaltsstoffen einsetzt. „Palmöl und Palmkernöl, die in kosmetischen Mitteln und Bestandteilen verwendet werden, müssen aus kontrolliert biologischem Anbau oder zertifizierten nachhaltigen Quellen (CSPO) stammen.“ Weiter steht geschrieben, dass „die Rohstoffe, die aus CSPO stammen, werden regelmäßig überprüft, um die Verfügbarkeit zu erfassen, mit dem Ziel, weitere Bestandteile verpflichtend aus CSPO zu verwenden. COSMOS setzt sich dafür ein, dass die Beschaffung von Palmöl-Bestandteilen in allen COSMOS-Lieferketten keine negativen Auswirkungen auf die natürlichen Ökosysteme, einschließlich der Primärregenwälder, hat.“ Im Klartext bedeutet das tatsächlich, dass COSMOS nur Palmöl oder Kokosfett in Bio-Qualität erlaubt.
Doch wir möchten gedanklich noch zwei Wege mit Euch gehen:
- Mittlerweile gibt es Cosmos Naturkosmetik und Biokosmetik. Utopia erklärt anschaulich die Unterschiede, womit wir beim zweiten Punkt wären.
- Sowohl Kokos- als auch Palmöl haben oft nicht unfragwürdige Lieferketten, sind aus Kosmetikpodukten häufig aber nicht wegzudenken. Beim Palmöl ist die Sachlage insofern sehr kritisch, als dass dessen Abbau für einen Großteil der Urwaldrodung und damit einem Brandbeschleuniger des Klimawandels verantwortlich ist. Aus Nachhaltigkeitsperspektive ist also der Unterschied zwischen Natur- und Biokosmetik in manchen Punkten beachtlich. Denn die Biolinie garantiert, wenn auch immernoch fragwürdig als Rohstoff, zumindest Palmöl aus Bioanbau.
Ein anderes Siegel, das „NATRUE“ steht für Palmöl nach „RSPO“ Standard, nach dem inzwischen laut Utopia ein Fünftel der weltweiten Produktion zertifiziert ist. Das macht uns stutzig. Der Standard garantiert laut Utopia nur die Rodung „besonders schützenswerter“ Wälder, Pestizide sind erlaubt. Wirklich zertifiziertes Bio-Palmöl wird in der EU strenger kontrolliert als das nach RSPO, wenngleich auch das ein Anfang ist.
Bei allen Siegeln gilt, genauer nach dem Unterschied der Natur- und Biokosmetik zu schauen und sich Inhaltsstoffe bewusst zu machen oder gegebenenfalls mit Apps wie Toxfox des BUND e.V. zu checken, wenn das Thema Verantwortung entlang der Lieferkette für einen selbst wichtig ist.
Genau diese Komplexität ist jedoch der Grund, warum wir hinter die Ladentheke von Green Mama Kirsten schauen und auf ihre Kompetenz und verantwortungsvolle Produktauswahl vertrauen.
Spannungsfeld Kund:innen- Mehrwert vs. globale Lieferkette?
Zurück auf die Berger Straße. Kirsten beleuchtet im Gespräch noch einen anderen Punkt:
„Meine Intention ist es, meinen Kund:innen einen Mehrwert zu bieten. Die Qualität, das Hautgefühl und der Nutzen für meine Kund:innen stehen an erster Stelle. Nur so kann ich auch nachhaltig wirtschaften. Natürlich kann ich viele Produkte, die vegan und biologisch verkaufen, aber ist das denn ressourcenschonend? Was nicht unbedingt gebraucht wird, möchte ich auch nicht verkaufen und anwenden. Deshalb suche ich meine Produkte mit Sorgfalt aus: Weniger ist mehr.“
Verschwendung macht eben nicht in der Lebensmittelbranche Halt. Der Sortimentsüberfluss sorgt für Konsumwahnsinn, der nicht nötig ist. Dabei können einige wenige Produkte trotzdem Rohstoffe mit globalen Lieferketten bedeuten.
Trotzdem erzählt Kirsten mir, dass sie sich natürlich bei jedem Produkt mit einer langen Lieferkette Gedanken darüber macht, ob der Mehrwert für die Kund:innen groß genug ist, um die Wege in Kauf zu nehmen. Beispielsweise hadere sie zurzeit mit einem Produkt aus Amerika.
Doch globale Lieferketten sind nicht per se schlecht. Sie sichern Arbeitsplätze in anderen Ländern und können bestenfalls für Wohlstand sorgen, auch wenn sie das zugegebenermaßen noch nicht oft tun. Hierbei sind wir als Verbraucher:innen gefragt.
Soziale Standards in den globalen Lieferketten der Naturkosmetik
Wir haben also verstanden, warum es einerseits oft nicht möglich ist, Produkte aus Deutschland oder Europa zu beziehen (Manuka-Honig etc.) oder andererseits die Qualität teilweise einfach besser ist und so den Kund:innen mehr Nutzen stiftet. Aber was ist mit den sozialen Standards in der Naturkosmetikbranche in Ländern des globalen Südens?
Kirsten und ich unterhalten uns über den Herstellungsprozess von Naturkosmetika, welcher per se – selbstredend – primär ohne chemische Stoffe geschieht. Anders als beispielsweise bei dem Prozess des Bleichens von Jeans oder der Herstellung von Elektroartikeln kann es bei Naturkosmetik zumindest nicht zu einer Vergiftung der Angestellten kommen.
„Das beruhigt mich natürlich am allermeisten. Außerdem wähle ich meine Hersteller immer nach bestem Gewissen und Wissen aus. Ich habe in all meine Händler:innen großes Vertrauen, dass die Bedingungen unter denen die Kosmetika hergestellt werden den sozialen Standards entsprechen. Aber daneben sitze ich natürlich auch nicht. Das ist sicher eine der großen Herausforderungen der globalen Lieferketten.“
Herausforderungen der globalen Lieferketten: Nachteil für kleine Unternehmen
Während wir über die Herausforderungen der globalen Lieferketten sprechen, betont Kirsten immer wieder, dass es für kleinere Unternehmen schwieriger ist, sich auf dem Markt zu behaupten. Sie haben zum einen oft nicht die Mittel, sich Zertifizierungen leisten zu können (s. Kampagne „Fairer Handel ist mehr als ein Siegel“). Zum anderen seien die kleinen Unternehmen durch die fehlende Skalierung bei Lieferengpässen nicht so flexibel. Auch machen natürlich die kostengünstige Bereitstellung von Naturkosmetikprodukten die Qualitätsarbeit von beispielsweise lokalen Frankfurter Kosmetikfirmen (ja, die gibt es!) schwieriger und vor allem teurer, da sie kleinere Mengen einkaufen.
Das Thema Kosten für Zertifizierungen und Rohstoffe bei kleineren Mengen zieht sich durch alle Branchen, denke ich mir und bedanke mich bei Kirsten für ihr Vertrauen.
Was haben wir gelernt:
- In der Kosmetik kommt es auf die genaue Bezeichnung der Inhaltstoffe und deren Herkunft an, wenn wir unter Nachhaltigkeitsaspekten draufschauen
- Weniger ist mehr: wenn wir weniger Produkte anbieten, kann dafür eine höhere Qualität mit besseren Standards vereinfacht werden
- Andere Länder sind teilweise Vorreiter in der Naturkosmetikbranche
- Naturkosmetik ist nicht gleich Bio
- Der Verzicht auf Plastik in Kosmetik ist leider nicht selbstverständlich, Rohöl hat fragwürdige Lieferketten
- Vertrauen ist auch hier wichtig, Euer Naturkosmetikladen kennt im Zweifel Hersteller:innen persönlich und kann Fragen verständlicher beantworten als Siegel
Bildcredits: Pixabay | Monfocus
Marlene führt gemeinsam mit Alexandra die Geschäfte der Lust auf besser leben gGmbH, die sie 2014 gegründet hat. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind nachhaltige Quartiers- und Regionalentwicklung sowie die Konzeption und Umsetzung von innovativen Projekten, Kampagnen und Events.
Unsere lebenslustige Powerfrau Marlene liebt das Netzwerken ebenso wie die kreative Entwicklung neuer Konzepte. Ob analog oder im Social Web: Hauptsache sie erreichen und begeistern Verbraucher:innen und andere Zielgruppen für Nachhaltigkeit.
Die Arbeit mit Kleinunternehmen und deren Förderung im Bereich nachhaltiges Wirtschaften sind seit 2014 ihre besonderen Anliegen – damals wurde sie zur jüngsten (ehrenamtlichen) Vizepräsidentin Deutschlands in der IHK Frankfurt am Main gewählt und baute das dortige Kompetenzzentrum Nachhaltigkeit auf. Mit Lust auf besser leben als „good Lobby“ zu agieren oder über knackige Texte die Öffentlichkeit für Nachhaltigkeitsziele zu begeistern ist mittlerweile das Steckenpferd der frisch gebackenen Mutter.
Als gelernte Veranstaltungskauffrau scheut sie sich nicht anzupacken. Die Denke „Das haben wir schon immer so gemacht!“ ist ihr völlig fremd, sie handelt gerne unkonventionell – und liebt gleichwohl die beinahe diktatorische Nutzung von Ablagesystemen und Aufgaben-Tools. Des Weiteren ist sie ehrenamtliche Aufsichtsrätin der OEKOGENO SWH eG, Steuerungsgruppenmitglied bei Fairtrade-Stadt Frankfurt und Rhein.Main.Fair. sowie im Beirat des kommunalen BNE-Vereins Umweltlernen Frankfurt e.V. und im Expert*Board des Zero Waste Labs der FES.