O2 + ♥ = Nachhaltigkeit? Team Insights 14
24. September 2020
Eva Howell
Neulich bei der Lust auf besser Leben gGmbH …
Eigentlich wollte ich über nachhaltige Mobilität schreiben, dabei bin ich bei Liebe angekommen
Ich wollte darüber schreiben, dass ich vor sechs Wochen bei Lust auf besser Leben zu arbeiten angefangen habe und 30km zwischen meinem Wohnort und unserem Büro liegen. Ich wollte darstellen, dass ich zwar viel im Home Office erledigen kann, an manchen Tagen aber morgens mein Kind in die Kita bringen, dann mal schnell nach Frankfurt düsen und dann wieder pünktlich zum Abholen da sein muss – und dass das alles viel einfacher mit dem Auto wäre. Ich wollte einwerfen, dass ich aber sehr gerne Zug fahren würde, um meine Emissionen möglichst klein zu halten. Und schließlich sollte mein Beitrag damit enden, dass das alles gar kein Problem sein wird, denn mit der richtigen Organisation klappt alles. Für den Weg zur Kita und zum Bahnhof habe ich nun einen super Fahrradsitz für meinen Sohn, mein Bahnticket ist in meinem Portemonnaie, Fahrradhelme und Regenjacken liegen griffbereit. Doch wisst Ihr was? Organisation ist vielleicht nicht alles und mir fällt das Ganze manchmal nicht so leicht.
Ist es nicht oft so, dass, wenn man eine nachhaltige Praxis ins Leben integrieren möchte, man den Weg wählen muss, der etwas schwieriger, aufwendiger oder müßiger erscheint? Hat man nicht oft das Gefühl, auf etwas verzichten zu müssen? Vielleicht ist es auch manchmal gar nicht so schlimm, diese Anstrengungen einzusetzen, denn es geht ja schließlich um unsere Zukunft. Doch habe ich für mich persönlich eine Sache erkannt: Ich kann nur nachhaltig nachhaltig Leben (ja, 2x nachhaltig), wenn meine tägliche Praxis nicht nur schwieriger, sondern auch besser, nicht nur aufwendiger, sondern auch schöner, nicht nur müßiger, sondern auch vielseitiger erscheint. Anstatt nur den Verzicht zu sehen, muss ich auch den Mehrwert spüren. Ich setze dabei jetzt mal auf meine Vorstellungskraft: Möglicherweise kann ich mein eigenes Gehirn austricksen, um mein Gefühl über bestimmte Praktiken zu ändern. Und ich setze auf Luft und Liebe.
Reframing for Change
Kennt Ihr vielleicht: In der Psychologie gibt es das schöne Konzept des Reframing, in deutsch Umdeutung oder Neurahmung, welches auf den Ideen und Konzepten unterschiedlicher Vordenker aufbaut: Milton H. Erickson, der für seine Arbeit mit Hypnose und verschiedenen Bewusstseinszuständen bekannt ist; Virginia Satir, eine Pionierin in der Familientherapie; Gregory Bateson, der Biologie, Soziologie, Linguistik, Geschichte, Psychologie, Kybernetik und Kunst um über die Ökologie des Geistes zu schreiben – und über uns Menschen als dynamisches Ökosystem und Teil eines solchen. Es wird angenommen, dass dasselbe Ereignis komplett unterschiedlich gedeutet oder interpretiert werden kann, je nachdem in welchem Bedeutungskontext es betrachtet wird – Reframing for Sustainability?
Was passiert, wenn jeder Weg zur Kita als ein kleiner Fahrradausflug gesehen wird, bei dem wir auch mal kurz anhalten, um einen Vogel oder einen Bagger (oder „Gaggaaaa“, wie mein Sohn fasziniert ausrufen wird) auf der Baustelle zu betrachten? Werde ich die frische Luft, die ich dann auf dem Weg zum Bahnhof einatme, bewusst wertschätzen können? Ich hoffe es. Für die Bahnfahrten zumindest habe ich jetzt einen Plan: Anstatt über Verspätungen oder einen längeren Arbeitsweg nachzudenken, sehe ich diese Zeit nun als eine kleine Oase für mich selbst, in der ich etwas Schönes lese. Liebes Leben von Alice Munroe ist meine derzeitige Lektüre. Tiefsinnige Kurzgeschichten über das Thema Liebe, für die ich sonst im Leben gerade keinen Kopf habe. Wenn ich nun meine 30-60 Minuten in der Bahn sitze, lasse ich meine Gedanken ein bisschen in einer fiktiven Welt der Liebe baumeln – aus Liebe zu mir selbst und Liebe zur Erde.
Liebe und Nachhaltigkeit
Meine Lektüre und meine kleine Gedankenreise für diesen Artikel haben mich dazu gebracht, mal „Liebe und Nachhaltigkeit“ in die Suchmaschine meines Browsers einzugeben. Dabei bin ich auf den Artikel Liebe und Nachhaltigkeit von Leila Dregger gestoßen. Sie greift den Slogan der Klimastreiks „Make Love, not CO2“ auf, um darüber zu schreiben, wie das Erlernen von nachhaltiger Liebe, in der die Öffnung des Herzens anstelle eines Besitzdenkens wichtig wird, auch der notwendige Paradigmenwechsel für ökologische Nachhaltigkeit sein könnte. Ich habe den Blog-Artikel 5 Wege für eine nachhaltige Liebe von Christopher Perry gefunden, in dem er darüber schreibt, wie Wertschätzung, gemeinsame Erfahrungen, Weiterentwicklung, Teamwork und Kompromisse wichtig für die nachhaltige Liebe zu seiner Liebsten sind – und wie das mit ökologischer Nachhaltigkeit verknüpft werden kann.
Als Soziologin hat ein weiterer Artikel mein Herz höher schlagen lassen. In einem Essay im Kunstforum International mit dem Titel Liebe, Freiheit, Denken – Zur Ästhetik der Nachhaltigkeit betrachtet der Soziologe Hermann Pfütze das Konzept Nachhaltigkeit vor allem mit Blick auf ein Paradox: Nachhaltigkeit ist auf der einen Seite der Wunsch nach Beständigkeit und Gewissheit einer Zukunft. Um dies zu erreichen und gleichzeitig auf dem Weg dorthin noch Freiheiten für Unterschiede zuzulassen, müssen wir jedoch von Gewissheiten abkehren und uns auf Ambivalenzen und Ungewissheiten einlassen. Somit ist nachhaltige Praxis auf der anderen Seite auch die Wertschätzung des Flüchtigen – worin für ihn die Schönheit oder Ästhetik der Nachhaltigkeit liegt. Er sieht den Umweltdiskurs, angelehnt an Niklas Luhmanns Liebe als Passion, auch als einen Liebesdiskurs – eine leidenschaftliche, idealisierende Weltliebe, in der man mit Ent-Idealisierung und Loslassen kämpfen muss. Und er schreibt „Nachhaltigkeit ist […] nichts, wofür man andere verantwortlich machen kann. Man kann sie weder delegieren noch verordnen, sondern nur bei sich selbst entwickeln, als, mit Foucault zu sprechen, Fähigkeit zur Selbstsorge (soisouci) und Kultivierung der Selbstliebe.“ – Ok, Herr Dr. Pfütze, vielleicht kann man andere nicht verantwortlich machen, aber wie kann man mehr Menschen für diese Kultivierung der Selbstliebe animieren? – frage ich mich in meiner Arbeit.
Und da, sieh an: Das enorm-Magazin schreibt: Liebe ist eine Ressource. In diesem Artikel wird nicht nur jüngste wissenschaftliche Forschung über den Zusammenhang von Liebe und Nachhaltigkeit vorgestellt, auch die Unternehmensberatung hat wohl erkannt, dass Selbstlosigkeit – als Credo der wahren Liebe – ein Rezept für nachhaltigen, wirtschaftlichen Erfolg sein kann. Und dass der Wunsch nach Sinnhaftigkeit, als immerwährende Sehnsucht der Menschheit, mobilisiert werden kann – wir hoffen, in die richtige Richtung.
Somit hat mich mein Artikel über meine persönliche, nachhaltige Mobilität auf eine kleine Reise gebracht, bei der ich über Reframing, Liebe und Nachhaltigkeit sinnieren konnte. Meine Intention ist es, nachhaltige Praxis, wie Fahrrad- und Bahnfahren, als einen Akt der Selbstliebe oder Selbstsorge zu sehen und den Bedeutungsrahmen dafür so zu positionieren, dass ich die größtmögliche Wertschätzung für die Luft, die ich atme, oder die Bücher, die ich lesen kann, erfahre. Ich möchte die Schönheit im Flüchtigen finden, um für Beständigkeit zu kämpfen. Ob Luft und Liebe für Nachhaltigkeit reichen, weiß ich nicht. Dafür beschäftige ich mich in meiner Arbeit auch liebend gerne mit CO2- und Ressourcen-Bilanzen. Ich denke aber, dass nachhaltige Praxis mit Liebe und tiefem Ein- und Ausatmen besser gelingen kann.
Eure Eva
Reframing: http://methodenpool.uni-koeln.de/download/reframing.pdf
Enorm (2019) Liebe ist eine Ressource: https://enorm-magazin.de/gesellschaft/zusammenleben/liebe/liebe-ist-eine-ressource
Blog: Wir leben nachhaltig (2017) 5 Wege für eine nachhaltige Liebe: https://blog.wir-leben-nachhaltig.at/2017/08/15/5-wege-fuer-eine-nachhaltige-liebe/
Natürlich Online (2019) Liebe und Nachhaltigkeit: https://www.natuerlich-online.ch/magazin/artikel-gesundheit/?tx_ttnews%5Btt_news%5D=17151&cHash=ffefd1be86786393b64edeb304375343
Kunstforum International (2002): Liebe, Freiheit, Denken – Zur Ästhetik der Nachhaltigkeit: https://www.kunstforum.de/artikel/liebe-freiheit-denken-zur-asthetik-der-nachhaltigkeit/
Als Soziologin mit einer Affinität für philosophische Fragestellungen sinniert sie gerne über die Rolle des Individuums im Universum, über Technik und Emotionen und über Natur und Kultur. Als berufstätige, zeitweilig alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen und nach vielen Umzügen in In- und Ausland weiß sie aber auch, dass die großen Fragen jeden Tag aufs Neue im Kleinen und in sehr spezifischen Lebensumständen ausgehandelt werden.
Um einen Beitrag dazu zu leisten, die globalen, nachhaltigen Entwicklungsziele alltagstauglich zu machen und den Alltag zukunftsfähig zu machen, bearbeitet sie in Projekten gerne alltägliche und zugleich komplexe Themen, wie beispielsweise Ernährung. Mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden gewappnet sowie einer guten Dosis Kreativität und ihrer so sympathischen Bedachtheit versteht sie es, mit Schulungsteilnehmer:innen und Projektpartner:innen aus unterschiedlichen individuell-emotionalen, sozio-kulturellen, gesellschaftlich-politischen, rational-wirtschaftlichen oder pragmatisch-praktischen Perspektiven gemeinsame Ansätze und Ideen zu generieren.