Interview über Secondhand Mode mit Kaweh Nemati von Escatira

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9. März 2019

ÜBER DEN AUTOR
Marlene Haas
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 „Wir merken, dass Nachhaltigkeit und Herkunft der Kleidung den Kunden immer wichtiger werden.“ – Ein Gespräch mit Kaweh Nemati  vom Frankfurter Modegeschäft Escatira über zweite Wege, das chinesische Italien und Lohnkosten in Deutschland

Wir haben nachfragt. Ich besuche Kaweh Nemati, den Inhaber des Frankfurter Modegeschäfts Escatira. In einem freundlich eingerichteten Ladengeschäft im Frankfurter Nordend findet man liebevoll angeordnet moderne und hochwertige Klamotten, die Lust auf Stöbern machen. „Wenn in meiner Lieblingsjeans ‚Made in Italy‘ steht, ist das ein gutes Zeichen für die Nachhaltigkeit?“ Herr Nemati denkt nach – so einfach scheint die Antwort nicht zu sein.

Wege der Secondhand Mode

„Das kann man so pauschal nicht sagen. In vielen Kleidern steht ‚Made in Italy‘ – und sie haben alle die unterschiedlichsten Wege und Produktionsbedingungen hinter sich. Da muss man schon genauer schauen. Aber wir merken, dass Nachhaltigkeit und Herkunft der Kleidung den Kunden immer wichtiger werden.“ „Wo bekommen Sie denn Ihre Kleidung her?“ frage ich nach. „Wir verkaufen sowohl First- als auch Secondhand-Mode. Die gebrauchte Kleidung bekommen wir von Kunden im Rhein-Main-Gebiet mit einer Entfernung von maximal 30 km. Diesen Kunden ist es wichtig, etwas für die Nachhaltigkeit zu tun – schließlich müssen Rohstoffe nicht neu verwendet, produziert und transportiert werden.“ Tatsächlich kaufen viele meiner Freunde mittlerweile auch gebrauchte Kleidung oder gehen auf Kleidertauschparties – das schont nicht nur die Umwelt, sondern auch den Geldbeutel, und die Giftstoffe sind über die Jahre schon rausgewaschen. „Und wo wurde die Kleidung ursprünglich produziert, die Sie als Secondhand verkaufen?“ „Das lässt sich nicht immer nachvollziehen. Bestimmt wurde davon auch viel in Asien produziert. Aber es ist auf jeden Fall die nachhaltigere Alternative, dieser hochwertigen Kleidung ein zweites Leben zu schenken, statt sie über Altkleidercontainer auf eine lange Reise nach Afrika oder Südamerika zu schicken.“

Made in Italy und deutsche Secondhand Kleidung?

Über die Vor- und Nachteile von Altkleidercontainern haben wir tatsächlich schon viel gehört und recherchiert. „Und wo kommt Ihre Firsthand Mode her?“ frage ich nach. „Firsthand kommt bei uns nur aus Italien. Da sind die Wege viel kürzer als bei der Produktion in Bangladesch oder China. Das ist uns wichtig.“ Das stimmt wohl. „Aber ‚Made in Germany‘ verkaufen Sie nicht?“, hake ich nach. „In Deutschland produzierte Kleidung ist teuer und würde von unseren Kunden nicht bezahlt werden. Wenn deutsche Modefirmen schon die hohen Lohnkosten in Kauf nehmen, dann können sie meist auch gleich die hochwertigsten Stoffe verwenden, sodass eine Strickjacke dann im Verkauf 250,- Euro kostet. Wenn wir aus Italien beziehen, dann gibt es auch Produkte aus Viskose für 48,- Euro. Unsere Kunden, die die hochwertige Variante aus Naturstoffen und deutscher Produktion haben wollen, bekommen die bei uns dann gebraucht für 100,- statt neu für 250,- Euro. Denn bei uns legen wir auch bei Secondhand Wert auf Mode aus der letzten Saison.“

Chinesische Firmen „Made in Italy“?

Ich wundere mich: „Aber italienische Mode hat doch das Image von Luxus und Hochwertigkeit – kann die Mode aus Italien da vom Preis wirklich mit Mode aus Bangladesch oder China mithalten? Italien hat doch europäische Arbeits- und Sozialstandards…“ Herr Nemati erklärt: „Der Trend ist, dass immer mehr in Italien produziert wird. Prato ist eine Textilstadt nördlich von Florenz, die vor einigen Jahren pleite gegangen ist, weil damals immer mehr in Asien produziert wurde. Aber ein findiger Chinese hat erkannt, dass Europäer ‚Made in Italy‘ lieben, und da hat er unglaublich viele Textilfirmen in Prato aufgekauft, die über Jahre vorher leer standen.“ Zuhause lese ich diese Entwicklung in einem Zeitungsartikel nach und staune: „Prato hat in den vergangenen 20 Jahren den Export halbiert; gut die Hälfte der einst 8.100 Firmen existiert nicht mehr; verloren gegangen ist innerhalb von zehn Jahren mehr als ein Drittel der Arbeitsplätze, 10.000 in der Stadt selbst, 20.000 in der Region. Im selben Zeitraum sind etwa 4.500 chinesische Firmen entstanden, bevorzugt in der Bekleidungsindustrie, genauer gesagt in dem, was man in Italien „pronto moda“ nennt: schnell gefertigte, schnell wechselnde Artikel, verkauft an Händler aus ganz Europa, Hauptsache billig.“

Umwelt profitiert: 1.200 km nach England versus 13.000 Seemeilen aus China

Kaweh Nemati erklärt, dass es über diese Entwicklung große Debatten gibt, aber dass sich durchaus Win-Win-Situationen ergeben: „Mittlerweile kann die Stadt durch die Steuereinnahmen florieren. Da wird nun von Chinesen aus Europa heraus der europäische Markt bedient. Die chinesischen Mitarbeiter sind effizient und engagiert, weil sie den Wunsch haben, durch ihre gute Arbeit die Familie in der Heimat zu ernähren. Die Chinesen in Prato sind gut integriert, zahlen Steuern und die Kinder reden italienisch. Die Umwelt profitiert, weil die europäischen Umweltstandards eingehalten werden und die Lieferwege maximal 1.200 km nach England oder 700 km nach Deutschland betragen, versus 13.000 Seemeilen aus China.“ Dass viele Chinesen in Prato gut integriert sind, kann man tatsächlich in einer bewegenden Dokumentation von Arte anschauen. Und da merkt man wieder: die Entscheidung, was nachhaltig ist, kann nicht objektiv getroffen werden. Kunden entscheiden mit ihrem Konsum jeden Tag darüber, was ihnen persönlich wichtig ist.

 

Marlene Haas
Author: Marlene Haas

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