Gibt es etwas Gutes an der Sorge? Team Insight 2022
11. August 2022
Gesina Schalenberg
Gedanken zum Zusammenhang des Jahrhundertwassers in 2021, der aktuellen Hitzeperiode, unserer Wahrnehmung von Klimawandelrisiken und dem Vorsorge-Prinzip im Umweltrecht…
Wer beschäftigt sich bei 37°C Außentemperatur schon freiwillig mit Sorgen? Oder gerade dann? Ich habe mich gefragt, ob Menschen dieses Team Insight lesen möchten. Aber ich bin bestimmt nicht die Einzige, die in diesen Tagen eine gewissen Beklemmung verspürt, beim Lesen der Nachrichten und Wetterprognosen oder beim Verstecken vor der Sommerhitze. Und vielleicht tut es ja gut, darüber zu sprechen und zu wissen, wie andere darüber denken…
Ein kurzer Blick zurück auf Juli 2021…
Dasselbe Bedürfnis hatte wohl auch Andy Neumann, ein Familienvater aus Ahrweiler, der die Erlebnisse aus der Flutnacht im Juli 2021 und den folgenden Monaten in seinem Buch „Es war doch nur Regen!? Protokoll einer Katastrophe“ festgehalten hat. Wie der Titel es andeutet, ist für ihn, auch für mich und für viele, immer noch unbegreiflich, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte, die über 180 Menschen das Leben kostete (bpb 2021). Herr Neumann musste es in Worte fassen, um zu verarbeiten, wie seine Familie und viele weitere von den Fluten überrascht wurden. In den sozialen Medien erhielt er enorme Resonanz, ich erinnere mich an die Handyvideos und Chatverläufe. Immer wieder betont er, dass er als Polizist mit Gefahrensituationen vertraut gewesen sei und auch mit der Kommunikation von Risiken. Dennoch, auch nachdem die Feuerwehr mit Ansagen vorbeifuhr, machte er sich lange keine allzu großen Sorgen, bis das Wasser plötzlich zur Tür hereinströmte. Vor wenigen Wochen war es ein Jahr her, aber indem ich dieses Buch lese, erinnere ich mich wieder an den Schock und die Diskussionen im Anschluss: War der Klimawandel schuld? Überhaupt, wer ist schuld, wer hat zu spät oder gar nicht reagiert und gewarnt? Herr Neumann formuliert seine Botschaft hierzu bewusst knapp:
„Lassen wir es nicht darauf ankommen! Tun Sie alle etwas, im Großen, im Kleinen, ganz egal.“ (Neumann 2021, S. 21).
Die Einstellung, die er beschreibt, treibt mich persönlich schon lange an. Explizit seit ich 2017, damals in den peruanischen Anden, die Überflutungen und Schlammlawinen in Folge des El-Nino-Phänomens miterlebt habe. Auch damals wurde ein Zusammenhang mit dem Klimawandel diskutiert. Was sich dadurch für mich verändert hat? Ich glaube, das abstrakte Wissen über die möglichen Auswirkungen des Klimawandels wurde real, greifbar. Aber das war immer noch auf der anderen Seite der Welt! Natürlich sollte das keinen Unterschied machen, aber ich kann jeden verstehen, der letztes Jahr dachte: Krass, jetzt ist der Klimawandel hier in Deutschland angekommen. Ob die einzelnen Ereignisse dem Klimawandel zuzuordnen sind, kann wohl kaum beantwortet werden. Doch die Mehrheit der Expert:innen sagen voraus, dass Extremwetter immer häufiger auftreten werden (bpb 2021) und die Flutkatastrophe hat uns verdeutlicht, was das unter anderem bedeutet kann.
Wie ich dieses Semester gelernt habe, gibt es in der Umweltpsychologie wissenschaftliche Konzepte über Risikowahrnehmung.
Zum einen gibt es das objektive Risiko, das man immer erst hinterher mathematisch berechnen kann und das angibt, wie wahrscheinlich ein bestimmtes Ereignis mit einem potentiellen Schaden eintritt. Und dann gibt es noch das subjektive Risiko – eine individuelle oder sozial konstruierte Schätzung, die vom objektiven Risiko stark abweichen kann. Beides liegt umso näher beieinander, je mehr wir über die relevanten Umweltsysteme wissen und je weniger diese sich verändern. Die Komplexität und der Wandel des Klimasystems dürften die Abweichungen somit vergrößern. Risiken mit hoher Wahrscheinlichkeit, zum Beispiel die Erkrankung an Krebs, ein Autounfall oder vielleicht zukünftig auch das Eintreten von Wetterextremen, unterschätzen wir tendenziell. Das ist eine Art Selbstschutz – wie soll man sonst optimistisch durch den Tag kommen? Die sogenannte „Protection Motivation“ erhält unsere Funktionsfähigkeit (Rippetoe & Roggers 1987), wir ignorieren einfach wichtige Gefahren unter ständigem Risikostress. Dieses emotionsfokussierte Coping-Strategie verwenden wir vor allem, wenn wir keine Kontrollmöglichkeiten sehen (Gardner & Stern 2002). Auch Risiken, die durch menschliche Aktivitäten oder Unterlassen bestimmter Handlungen entstehen und die sich schleichend fortentwickeln, verdrängen wir gerne. Eigentlich sollte uns gefährlich erscheinen, was wir schwer kontrollieren können, was neuartig und unbekannt ist, wofür oder wogegen wir uns nicht entscheiden können und was unfaire Effekte hervorruft.
All das trifft meines Erachtens auf den Klimawandel zu, nur, dass das Verdrängen momentan noch die Sorge zu überwiegen scheint. Aber vielleicht ändert sich das gerade bei mir und auch bei Euch?
Gerade erleben wir das Gegenteil zur Flutkatastrophe: absolute Trockenheit und Hitze, so sehr wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Und das spüre ich täglich hier vor Ort, auch wenn ich durch den Park gehe und die Bäume jetzt schon wie im Herbst ihre Blätter abwerfen. Auf der Bunker-Anlage neben den vertrockneten Platanen wurde vor ein paar Wochen der Spruch gemalt „Wir haben keine andere Zeit als diese“, Frauen halten sich auf dem Motiv an den Händen und tragen einen Baumsetzling. Das bringt mich zum Nachdenken. Wenige Meter weiter ist der Rhein bis auf die wenige Meter breite Schifffahrtsrinne mit trockenem Oberkörper zu durchwaten. Der Wohnwagen auf dem Foto ist vielleicht bald wie wir auf dem Weg nach Südeuropa ans Meer, weil es dort aushaltbarer ist als in unseren Großstädten (wenn es am Urlaubsort nicht gerade brennt…). Spätestens jetzt ist klar, es geht auch um Klimaanpassung. Wir können den Wandel nicht mehr aufhalten, nur abmildern und lernen, damit umzugehen. Wie wollen wir reagieren auf diese Veränderungen? Und haben wir dazu überhaupt die Aufmerksamkeit bei all den aktuellen Krisen durch die Corona-Pandemie, den Ukraine-Krieg, die Inflation etc.?
Aber keine Panik auf der Titanic! Denn Angst und Reaktanz bringt uns wohl auch nichts.
Was wir brauchen, so scheint es mir, ist eine gute Risikokommunikation – und zwar sowohl im Ernstfall, wie in der Flutnacht, als auch über die täglich im Hintergrund wachsenden Gefahren des Klimawandels. In diesen Tagen frage ich mich, wie wir mit abstraktem Wissen darüber umgehen und wie wir es mit erlebten Erfahrungen verknüpfen. Aber eigentlich wollte ich ja über das Gute an der Sorge schreiben, also jetzt zum positiven und pragmatischen Part des Ganzen. Ja, den gibt es!
Das Wort Sorge steckt nämlich auch in Vorsorge, und das ist doch wohl eine so gute Sache, dass sie sogar im europäischen Umweltrecht verankert ist.
Nach dem Vorsorge-Prinzip sind die Mitgliedsstaaten der EU rechtlich bindend dazu verpflichtet, Risiken zu minimieren, bevor eine Gefahr für die Umwelt, das Leben und die Gesundheit der Menschen eintreten kann (Art. 191 AEUV). Diese Pflicht wird vom Europäischen Gerichtshof sowie von den Vereinten Nationen in der Klimarahmenkonvention von 1992 (Art. 3) auch dann vorgeschrieben, wenn noch keine vollständige Gewissheit über die Kausalketten der Gefahr besteht. Es soll sich also frühzeitig über die möglichen Umweltfolgen gesorgt und vorsorglich Maßnahmen zur Abminderung dieser Folgen getroffen werden. Das leuchtet ein, denn je früher wir Hinweise auf Fehlentwicklungen wahrnehmen, desto mehr Chancen haben wir wohl, auf eine gute Art und Weise zu reagieren. Sorge und Vorsorge bergen also auch Chancen!
Denn eins ist mir seit den irritierenden Klopapier-Kauf-Kämpfen im ersten Corona-Lockdown hängen geblieben:
Ich möchte mich für einen Umgang mit Krisen einsetzen, der solidarisch, friedlich und bedacht ist – nicht kopflos, misstrauisch und egoistisch, weil wir völlig überrumpelt sind. Aber am besten lassen wir es gar nicht erst darauf ankommen! Ich hoffe, wir müssen nicht noch allzu viele Krisen an der eigenen Haut durchleben, bevor wir begreifen und eine solidarische Vorsorge wieder erlernen. Wie kommen wir dahin? Was sind Eure Gedanken dazu? Danke für Eure Offenheit…
Eure Gesina
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Quellen:
- Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) (2021): Hintergrund aktuell. Jahrhunderthochwasser 2021 in Deutschland, online unter: https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/337277/jahrhunderthochwasser-2021-in-deutschland/ (abgerufen am 04.08.22)
- Gardner, G.T. & Stern, P. (2002): Environmental problems and human behavior. Boston: Allyn and Bacon. (Kap. 9: Human reactions to environmental hazards)
- Neumann, A. (2021): Es war doch nur Regen!? Protokoll einer Katastrophe. Meßkirch: Gmeiner Verlag GmbH.
- Rahmeneinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen, online unter: https://unfccc.int/resource/docs/convkp/convger.pdf (abgerufen am 04.08.22)
- Ripptoe, P. & Rogers, R. W. (1987): Effects of components of protection motivation theory on adaptive and maladaptive coping with a health threat. Journal of Personality and Social Psychology, 52, 596604.
- Vertrag über die Arbeitsweise der europäischen Union, 26.10.2012, Amtsblatt der Europäischen Union, C 326/47, online unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:12012E/TXT (abgerufen am 04.08.22)
- WBGU (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderung) (1999): Welt im Wandel. Strategien zur Bewältigung globaler Umweltrisiken. Jahresgutachten 1998. Berlin: Springer.