Biene, Borke, Bullshittalk – und warum es einfach nicht so einfach ist | Team Insight von Marlene

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1. November 2023

ÜBER DEN AUTOR
Marlene Haas
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Neben meinem Laptop steht, während ich schreibe, eine brennende Kerze.

Ich liebe das heimelige Gefühl, das Kerzen schenken, während draußen Vieles sehr finster wirkt. Es ist sogar neurobiologisch bewiesen, dass ein kontrolliertes „Feuer“ vor unserer Nase in unserem Urhirn (meine Worte) das Gefühl von Geborgenheit auslösen – ein Gefühl, das aktuell viele Menschen sehr nötig haben.

Als ich vor über drei Wochen in den Urlaub aufgebrochen bin, stand die Welt Kopf. Der Krieg im Nahen Osten geht Vielen näher als andere aggressive Konflikte – aufgrund unserer Geschichte, natürlich, wegen unserer multikulturellen Gesellschaft und ihren Errungenschaften für uns alle – und der wirklich berechtigten Sorge, dass nun die komplexe Lage unwiderruflich gekippt sein oder kippen könnte.

Müde, dünnhäutig, wütend – wo ist die Kerze?

Ich zumindest merke, dass es mir schwerer fällt als früher, komplexe Themen in Diskussionen (wie den aktuellen Krieg in einer internationalen Leadership-Gruppe) geduldig, offen und ausdauernd auszudiskutieren, in dem Wissen, dass keine konsensuelle „finale Lösung“ am Ende herauskommt, da es diese oftmals nicht gibt. Der Weg der Auseinandersetzung ist das eigentliche Ziel und ich bin oft müde.

Ich merke, dass es mir schwerer fällt, nicht reflexartig um sensible Themen herumzuschiffen und Streit auszuhalten – und dabei nicht gleich aggressiv zu reagieren. Ich bin dünnhäutiger geworden.

Ich merke, dass es mich unfassbar wütend macht, mit schwarz-weiß Denken konfrontiert zu sein und dabei selbst nicht ins gleiche Muster zu fallen. Ich bin wütend!

Dabei brauchen wir – in Familien und auf der Arbeit, in Frankfurt, Hessen, Deutschland, Europa, der Welt – den respektvollen Austausch über heikle und kontroverse Situationen und die Kraft, in diese Verbindung zu gehen, so sehr. Auch wenn Zuhause die Kerze ruft.

Es gibt für die Lebensfragen im 21. Jahrhundert kaum mehr einfache Antworten. Doch unsere Gehirne scheinen mir für diesen Umstand nicht ausreichend entwickelt zu sein.

Vielleicht hat es auch was mit einer allgemeinen Überforderung durch digitale Informationswelten zu tun, depressive Post-Corona Stimmungen – einfach zu viel von allem.

Jedenfalls fühle ich, dass weder ich noch andere mit der Komplexität, der Aggression und der Veränderung aktuell bereits einen gesunden Umgang gefunden haben.

Das fällt besonders auf, wenn man wie ich ohne Handy in der Böhmischen Schweiz wandern geht, wo es mehr Bäume als Autos gibt, und die schwierigste Entscheidung darin besteht, zu überlegen, welche Wegmarkierung ans Ziel führt – rot-schwarz oder weiß-grün? Diese Entschlackung im Alltag tat so gut!

Respekt und Mitgefühl als Übungseinheit

Gleichzeitig habe ich die letzten 20 Jahre trainiert – und zwar Herz, Bauch (nicht die Muskeln) und Kopf. Deshalb weiß ich, dass es an einem bestimmten Punkt dieser Komplexität doch (mit einigem Training) auch einen „einfachen“ Schritt gibt, den wir alle üben können.

Was ich meine, haben Jenny Havemann und Abdul Chahin im ARD gezeigt. Viele Menschen, die aktuell im schwarz-weiß-Bullshittalk zu wenig gezeigt werden und damit fast nicht existent erscheinen, machen es. Es geht weniger um den Inhalt, sondern die Form – eine Haltung.

Wir können mitfühlend und wütend sein.

Wir können respektvoll miteinander umgehen und unterschiedlicher Meinung sein.

Wir können Komplexität aushalten und uns trotzdem nach Einfachheit sehnen.

Wir können zuhören und gleichzeitig nicht einer Meinung sein.

Das können wir.

Mit Übung.

Auch wenn jemand Bullshit erzählt und wir uns für eine Millisekunde lang wünschen, an einfache Antworten zu glauben und sie den anderen ebenso um die Ohren zu hauen – weil es sich erstmal befreiend anfühlen mag, alles ungefiltert „rauszulassen“.

Was hat das mit Borkenkäfern und Bienen zu tun?

Ich wollte eigentlich über die neue Folge von Jan Böhmermann schreiben (Lukas‘ Empfehlung), in der er Mythen auflöst und zeigt, wie sich eine neue Form des Greenwashings etabliert: das Beewashing.

In der er sehr geschickt darüber aufklärt, dass am Ende doch der Borkenkäfer Gutes bewirkt, wenn man den durch ihn zerstörten Wald in Ruhe lässt und daraus wieder neue Mischkulturen entstehen können, die klimaresilienter sind als das, was wir mit einer Monokultur-Waldwirtschaft erreicht haben.

In der er zeigt, dass es nicht immer so einfach oder gut und böse ist, wie wir glauben. Doch auch Böhmermann mit seinem berechtigten Versuch, Beewashing zu kritisieren, geht dabei etwas einseitig und einfach vor – damit die Satire ihre Wirkung nicht verfehlt?!

Lass die Höhlenfrau raus!

Poor me, poor us. Es bleibt einfach kompliziert.

Aber wir haben ein Dach über dem Kopf und anscheinend die Muße, uns über so etwas Gedanken machen – und Geld für Kerzen.

Also schließe ich mit dem ernsthaften Wunsch mein Insight, die Höhlenfrau in mir etwas ernster zu nehmen: Einfach abends Kerze statt Handy an. Dann hat das Gehirn ausreichend Zeit zur Erholung und Entwicklung, die ihm seit der Erfindung elektronischer Unterhaltungsmedien auch nach Feierabend weitestgehend verwährt bleibt, und ich vielleicht weniger Überforderungsmodus trotz Klimakrise, Krieg und Bullshittalk.

Macht mit. Es ist Neurowissenschaft, kein Bullshit.

Ganz einfach.

 

Eure

Höhlenfrau 😊

PS: Wem die Kurve von Komplexität und Krieg zur Kerze zu platt ist, möge sich eine Kerze anzünden oder das Bild angucken, und mir danach erst schreiben.

©Bildnachweis Beitragsbild: Ben Kilb

Marlene Haas
Author: Marlene Haas

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