Vom Untergang des (feministischen) Fortschritts, oder: Was der Glottisschlag mit einer emanzipierten Gesellschaft zu tun hat
20. März 2025
Marlene Haas
Geht es euch aktuell auch so: Viele Redebeiträge weißer, betagter Männer in Machtpositionen oder in solchen, die sie so fühlen lassen, befassen sich mit „den Frauen“, „dem Gendern“, „unserem Fortschritt“ oder „der Migration“. Sie lassen meinen Adrenalinspiegel innerhalb von wenigen Sekunden in die Höhe schnellen – in der vorauseilenden Vermutung, meinen Ohren würde erneut und zum x-ten Mal innerhalb dieses Jahres der Bullshit zugemutet, der sich aktuell wie ein giftiges Pilzgeflecht unter der Erde ausbreitet und am Ende einen Backslash in unserer Gesellschaft verursacht. Am Ende glauben wir das alles noch?! Hilfe!
Die „Modernisierung unseres Landes“: im 21. Jahrhundert leben und wie im 19. fühlen. Das ist „La pura vida“ für alte Männer-Egos und Frauen mit patriarchalem Schatten, die verstanden zu haben meinen, dass wir keine neuen Kitaplätze brauchen, sondern weiterhin das Ehegatten-Splitting. Dass wir das Wort „Klima“ benutzen sollten, ohne es mit politischen Inhalten zu füllen (nicht zu viel zumuten!). Dass wir Gendern verbieten können, sogar an Unis (!), und die dadurch verursachte Inkongruenz einfach verschweigen – was soll schon der Geschlechtseintrag „divers“ an sprachlichen Veränderungen bedeuten?! Es gibt doch eigentlich nur „Mann“ und „Frau“, Schwarz und Weiß. Und wer anderes behauptet, ist in der links-grünen Ecke abzustempeln, zu extrem fürs 21. Jahrhundert, in dem wir die Menschen mit reaktionären Parolen abzuholen versuchen – statt mit Authentizität und Rückgrat.
Ich will Kitaplätze, pink und gendern – way too much!
Ich wundere mich bisweilen, ob ich „deshalb“ vielleicht eher sterben werde. Denn selbst der entkoffeinierte Kaffee hilft nicht mehr beim Abregen (dieser hat übrigens eine viel schlechtere Klimabilanz als der „normale“, wie ich seit Kurzem weiß), CBD-Tropfen sind mir auf Dauer zu teuer. Yoga hilft, aber ich kann gar nicht so viele „Kriegerinnen“ üben wie ich bräuchte, um dieses Weltgefühl wegzuatmen – oder es anzunehmen und zu transformieren.
Immerhin müsste mich – sollte ich eher sterben – mein Kind dann nicht in einem Heim besuchen, das von KI-gesteuerten Robotern betrieben würde – die am Ende vielleicht sogar nicht die schlechteste Alternative darstellen zu einer Branche, die chronisch unterbesetzt und -finanziert wird und in der viele Menschen arbeiten, die aktuell nicht sehr respektvoll behandelt werden.
Doch eigentlich möchte ich seit Monaten über das Gendern schreiben. Wer bis hierhin noch mitliest – danke dafür, solche Ausbrüche sind Teil meiner aktuell notwenigen Psychohygiene – weiß also, dass mir das Thema vermutlich am Herzen liegt.
Denn der fast flächendeckende Boykott unseres Fortschritts macht mich wütend: Während der eine „Transgender-Mäuse“ mit wichtigen Forschungsprogrammen verwechselt und für seine perfiden Zwecke benutzt, untersagen andere kurzerhand selbst nicht Regierungsorganisationen das Gendern oder versuchen „Omas gegen Rechts“ einzuschüchtern.
Omas einschüchtern, ernsthaft? Warum?
„Wieso denn bloß?“, würden die Rumpelwichte in Ronja Räubertochter fragen. Sie würden es nicht verstehen, ich bin da ganz bei ihnen. Ich fühle mich wie ein solcher Rumpelwicht. Nicht ernst genommen mit meinem Anliegen, zu gendern und durch eine Veränderung von Sprache sukzessive eine feministischere – oder wen das Wort nun arg zu ängstigen beginnt: eine gleichberechtigtere – Welt zu fördern.
Dabei möchte ich selbst keinem Schwarz-Weiß-Denken verfallen. Mir sind die Barrieren der zaghaften Gender-Experimente durchaus bewusst – und ich finde es wichtig, sie kritisch zu begleiten.
Gendern ist nicht gleich inklusiv
Die Webseite www.genderleicht.de des Journalistinnenbundes gibt eine sehr gute Übersicht über Arten, Vor- und Nachteile des Genderns – und nimmt dabei eine sehr inklusive Perspektive ein. Das ist zu befürworten. Denn gerade Menschen, die die deutsche Sprache noch nicht fließend sprechen, eine Lese-Rechtschreibschwäche oder eine Seh-Behinderung haben, können durch Doppelpunkt, Sternchen und Co. noch mehr im Textverständnis behindert werden.
Gleichzeitig bietet der Doppelpunkt den Vorteil, dass er von Vorleseprogrammen mit einer Pause vorgelesen wird, dem Glottisschlag, wie beim gesprochenen Gendern auch. Doch auch diese Pause kann verwirren.
Die Reaktion auf die komplexen Bedürfnisse in puncto Sprache als Spiegelbild einer Kulturdebatte kann und darf meiner Meinung nach kein Genderverbot sein. Sprache bildet gesellschaftliche Strömungen ab, kann als Katalysator wirken – oder als Zensur. Ich möchte mir die Experimentierräume nicht nehmen lassen, weder in Sprache, Schrift noch Denken, Fühlen oder Handeln.
Nur durch das Experimentieren und Anhören verschiedener Bedürfnisse und Perspektiven kommen wir zu einer neuen Art von Ausdrucksform, die gerecht, barrierearm und inklusiv ist. Diese wird nicht im konservativen Raum entstehen, der neue Denkansätze im Keim erstickt und gleichzeitig „Fortschritt“ mit „Reaktionismus“ verwechselt.
I don`t wanna be a hater…
Ach, Marlene… „Haters gonna hate“ oder „Lass die Leute reden“.
Ja. Und nein.
Ich möchte nicht entweder gleichgültig oder aggressiv gegenüber den aktuell dominierenden Machtinhabenden werden. Dies sind leider noch vielfach Männer – aber auch die „Patriarchinnen“ machen mich wirklich wütend.
Dabei leiden Männer genauso wie Frauen und jedes andere Geschlecht unter dem Patriarchat. Wer das nicht glaubt oder von sich wegschiebt, sollte sich die neue Show des feministischen Influencer:innen-Duos Samy und Gynäkollege reinziehen oder den Film „Wunderschöner“ gucken, in dem psychosoziale Reinigungsarbeit Zuhause als Teil der Care-Arbeit anerkannt wird – meines Erachtens nach ein genialer Schachzug. Lasst die Ecken verstauben, solange der Geist poliert wird.
Ich möchte also statt Männer-Bashing eine gemeinsame Debatte, falls das noch nicht klargeworden ist. Kontroversen, ja. Aber auf Basis von Grundwerten, die den Namen verdient haben – und die in den letzten Monaten deutlich zu oft für PR über Bord geworfen wurden.
Lasst uns komplex bleiben, wo es nicht einfacher geht.
Lasst uns leichte Sprache wählen, wo sonst Unverständnis zu Exklusion führt.
Und lasst uns immer und immer wieder füreinander einstehen, statt Trennendes zu betonen.
Wer dabei Unterstützung braucht, so wie ich, freut sich vielleicht über eine Empathie-steigernde Literaturempfehlung: bell hooks‘ „Männer, Männlichkeit und die Liebe – Der Wille zur Veränderung“
Lasst uns gemeinsam diesen Willen stärken.
Eure Marlene

Marlene führt gemeinsam mit Alexandra die Geschäfte der Lust auf besser leben gGmbH, die sie 2014 gegründet hat. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind nachhaltige Quartiers- und Regionalentwicklung sowie die Konzeption und Umsetzung von innovativen Projekten, Kampagnen und Events.
Unsere lebenslustige Powerfrau Marlene liebt das Netzwerken ebenso wie die kreative Entwicklung neuer Konzepte. Ob analog oder im Social Web: Hauptsache sie erreichen und begeistern Verbraucher:innen und andere Zielgruppen für Nachhaltigkeit.
Die Arbeit mit Kleinunternehmen und deren Förderung im Bereich nachhaltiges Wirtschaften sind seit 2014 ihre besonderen Anliegen – damals wurde sie zur jüngsten (ehrenamtlichen) Vizepräsidentin Deutschlands in der IHK Frankfurt am Main gewählt und baute das dortige Kompetenzzentrum Nachhaltigkeit auf. Mit Lust auf besser leben als „good Lobby“ zu agieren oder über knackige Texte die Öffentlichkeit für Nachhaltigkeitsziele zu begeistern ist mittlerweile das Steckenpferd der frisch gebackenen Mutter.
Als gelernte Veranstaltungskauffrau scheut sie sich nicht anzupacken. Die Denke „Das haben wir schon immer so gemacht!“ ist ihr völlig fremd, sie handelt gerne unkonventionell – und liebt gleichwohl die beinahe diktatorische Nutzung von Ablagesystemen und Aufgaben-Tools. Des Weiteren ist sie ehrenamtliche Aufsichtsrätin der OEKOGENO SWH eG, Steuerungsgruppenmitglied bei Fairtrade-Stadt Frankfurt und Rhein.Main.Fair. sowie im Beirat des kommunalen BNE-Vereins Umweltlernen Frankfurt e.V. und im Expert*Board des Zero Waste Labs der FES.